
Oder: Warum wir Räume für Integration und Regeneration unbedingt brauchen
Ich durfte eine Woche lang eintauchen in den Sommer Campus der Pioneers of Change im Gemeinschaftsprojekt Zukunftswerkstatt Schloss Tempelhof. Was für eine intensive Erfahrung, die noch so nachwirkt, dass ich hier gerne darüber schreiben möchte.
In den letzten Jahren habe ich mich viel mit Gemeinschaftsbildung, persönlicher Entwicklung und Entfaltung und der Frage, was es braucht, damit wir Menschen in unserer natürlichen Kraft sein können, beschäftigt. Da ist es natürlich ein besonderes Geschenk ein Projekt wie Schloss Tempelhof kennen zu lernen und das auch noch in Gesellschaft von 130 anderen wandelfreudigen Menschen aus der Pioneers of Change Community.
Im Global Ecovillage Network wird Schloss Tempelhof immer wieder als ein wegweisendes Beispiel für eine intentionale Gemeinschaft zitiert. Seit 14 Jahren besteht das Projekt und derzeit leben ca. 160 Menschen in dem Dorf, verteilt auf verschiedenen Lebensräumen mit einem zentralen Dorf-Treffpunkt mit Gemeinschaftsküche, einem Hofladen, einer freien Schule, dem Seminarbetrieb, Werkstätten, der Landwirtschaft und dem Wald. Entscheidungen werden nach dem Prinzip des Konsens getroffen, immer wieder gibt es intensive Gemeinschaftszeiten, es gibt Raum zum gemeinsamen Experimentieren von ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Modellen. Einfach ist das bestimmt nicht immer. Es braucht eine starke Vision und Menschen, die es aushalten immer wieder in Kontakt mit sich, ihren inneren Themen und einander zu gehen.
An diesem fruchtbaren Ort durften wir sein und mit den Themen vom Sommer Campus eintauchen: Krise & Kokreation, Demokratie, Theorie-U, Polaritäten und unsere Beziehung zur Erde. Auf die einzelnen Inhalte möchte ich hier nicht eingehen, aber auf das, was ich in dieser Woche spüren durfte. Es war, als ob ich eingeladen war, einzutauchen in das Feld, das unter dem pulsiert, was in unserem Alltag so alles passiert – sozusagen in das kollektive Unbewusste. Das was ich dort wahrgenommen habe, hat mich tief berührt.
Ich habe Unsicherheit und Verwirrung gespürt, Verletzungen und Schmerz, Irritation, Aktionismus und Verstummung. In diese Qualitäten hinein zu spüren war anstrengend und ermüdend. Wir haben mit der Annahme gearbeitet, dass kleinteilige Verwirrung den Blick auf das Wesentliche verstellt. Das war die ganze Woche lang genau so auch spürbar. Wenn das gerade der Nährboden unserer Gesellschaft ist, dann ist es nicht verwunderlich, dass so viele Menschen im Moment erschöpft, perspektivlos und verwirrt sind. Es ist nicht verwunderlich, dass so viel Spaltung und Polarisierung passiert und wir gefühlt nicht wirklich vom Fleck kommen als Menschheit mit den wirklich wichtigen Themen der Zeit.
Was wir aber auch gemacht haben, ist ein Gespür dafür zu bekommen, was es denn braucht, um sich wieder mehr dem Wesentlichen widmen zu können. Da hat sich für mich ganz klar gezeigt – wir brauchen in allen Kontexten des Lebens mehr Zeit für Integration und Regeneration. Wenn wir nur von einem Punkt auf der Agenda zum nächsten springen, wenn ein Termin den nächsten jagt, ein Erlebnis auf das nächste folgt und wir gar nicht mehr dazu kommen, innezuhalten und etwas sinken zu lassen, dann bleibt unser Nervensystem ständig in einem aktivierten Zustand. Das ist auf Dauer furchtbar anstrengend und schädlich.
Wir brauchen Räume, in denen wir uns sicher fühlen, mit dem was sich in uns bewegt und zeigt und in denen wir uns mit Ruhe begegnen können. Räume, die gut gehalten werden, damit sich unsere Nervensysteme regulieren und miteinander schwingen können. Wir brauchen Zeit, um Impulse sinken lassen zu können, zu verdauen, zu verarbeiten, damit dann auf einem gut bereiteten Nährboden Neues entstehen und wachsen kann. Wir brauchen unseren Körper und die Verbindung zur Erde, um mit dem verbunden bleiben zu können, was in unseren Köpfen arbeitet und entwickelt werden will.
Wir brauchen Räume, die diese Zyklen vorsehen – und zwar in allen Bereichen unseres Lebens. Wir brauchen sie an unseren Arbeitsplätzen, in unseren Beziehungen, in unserer Freizeit. Es reicht nicht mehr einmal in der Woche nach Feierabend in eine Yogastunde zu gehen oder sich fernab vom Alltag in einen Austauschkreis zu setzen. Das sind wunderbare Übungsfelder, aber aus meiner Sicht gehören diese Qualitäten noch viel mehr hinein in den Alltag, in die Führungsprinzipien von Unternehmen und Organisationen, in die Schule und in unser zu Hause, in unsere Beziehungen.
Die Abwesenheit von dem Bewusstsein für diese natürlichen Zyklen und Rhythmen schaffen Stagnation, Eskalation und ganz viel Frustration und Erschöpfung.
Die gute Nachricht ist, dass wir die Fähigkeiten, die es braucht alle schon in uns tragen. Es braucht nur eine Entscheidung dafür, eine Ahnung von dem, was wir gewinnen können, wenn wir einen Moment innehalten, kurz still werden, gemeinsam den Atem fließen lassen, eine kleine Pause machen, unseren Körper und den Boden unter den Füßen spüren.
Was können wir gewinnen, wenn wir zu verstehen beginnen, dass wir mehr Zeit brauchen, um nach Phasen von Aktivität auch Phasen der Entspannung zu haben, in denen wir verarbeiten und regenerieren können, Kraft tanken, Kreativität ermöglichen? Diese Phasen gehören nicht in den Feierabend, sondern müssen Teil der alltäglichen Prozesse werden. Das braucht Vertrauen, Investition von Zeit und ein wenig Übung, aber es ist möglich.
Wieviel kraftvoller, lebensbejahender, verständnisvoller, gelassener und kreativer könnten wir durch unser Leben gehen und wieviel schöner könnten wir es gemeinsam haben, wenn wir als Gesellschaft auch mal ausatmen, entspannen, integrieren und regenerieren dürften?
Liebe Unternehmer*innen, Entscheidungsträger*innen, Politiker*innen schenkt euch diese Erfahrungen und teilt sie in euren Feldern. Holt euch die Expertise von Menschen, die sich seit Jahren mit diesen Themen auseinandersetzen, die Wissen über und Gespür haben für unser Nervensystem, für unseren Körper, für unseren Atem und für natürliche Rhythmen und Zyklen, die uns mit der Natur verbinden und ein Teil davon sein lassen. Holt euch Menschen, die Erfahrung damit haben, Werkzeuge der Regeneration in den Alltag einzubauen, in Sitzungen, in Projektteams, in Prozesse der Entscheidungsfindung.
Ich habe für mich noch stärker erkennen dürfen, wie wichtig die Erfahrungen, die ich persönlich machen durfte – im Unternehmenskontext als mittlere Führungskraft und in den letzten 9 Jahren der Selbstständigkeit und des Forschens an verschiedenen Orten – jetzt für die Gesellschaft sind. Ich stelle mich zur Verfügung mit meinem Wissen, mit meinem Verständnis, mit meiner Expertise und möchte Räume bieten, in denen Menschen sich sicher fühlen dürfen und sich mit ihren Schätzen auf eine konstruktive, entspannte Art und Weise zeigen dürfen. Als Geschenk für diese Welt.
Danke liebe Pioneers of Change für eure Arbeit, für euren Mut, für euer Dranbleiben. Danke Schloss Tempelhof für die Gastfreundschaft und das Halten unseres intensiven Forschungsraumes. Danke liebe Menschen und Organisationen, die ihr euch einlässt auf die Suche nach eurer natürlichen Kraft und auch mir Mut macht weiter zu forschen und im Austausch zu bleiben.
Herzliche Grüße
Martina
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