Die Hüter*innen der Lebendigkeit
- Martina De Rosi
- 4. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Oder: Was gibt dir Kraft?

Facebook ist gerade voll von berührenden Gedenknachrichten an Jane Goodall, die mit 91 Jahren auf einer Vortragstour in den USA gestorben ist. Vor wenigen Monaten ist Joanna Macy auch mit über 90 Jahren gestorben. Zwei große Frauen, die mich beide in den letzten Jahren immer wieder berührt und inspiriert haben, haben uns mit ihrem Erbe hier auf der Erde zurückgelassen.
Was diese beiden Frauen für mich verbindet ist ein gemeinsames Verständnis davon was Leben bedeutet und welche Rolle wir Menschen in dem großen Gefüge dieser lebendigen Welt haben. Und beide Frauen, die ich beide nicht privat und live kennengelernt, sondern über ihre Bücher, Vorträge und Lehren schätzen gelernt habe, haben für mich eine große Klarheit und Kompromisslosigkeit ausgestrahlt, wenn es um ihr Welt- und Menschenbild ging.
Die Grundlage ihres Wirkens hat sich für mich nach großer Liebe für alles, was lebendig ist, angefühlt. Ich habe einen Glauben an das Gute in den Menschen gespürt, eine Einladung das Fühlen zuzulassen und in Kontakt zu bleiben, mit allem, was auch schmerzhaft sein kann, wenn wir gerade in die Welt schauen. Immer wieder haben sie über Hoffnung und das Potential der Menschen als Hüter*innen der Natur und des Planeten gesprochen. Beide haben auf ihre Weise und an ihren Orten daran gearbeitet uns Menschen aus der Starre und der Gefühlslosigkeit herauszuführen.
Diese beiden Frauen haben für mich etwas verkörpert, was in uns allen da ist, etwas, das in unseren Zeiten vielfach durch unsere leistungs- und profitorientierte Gesellschaft und Lebensweise verschüttet ist, aber im Kern in jedem Menschen lebt: der Wunsch nach Verbundenheit und sich als Teil eines größeren Ganzen zu erleben. Oder vielleicht kann es noch einen Schritt weiter gehen. Es ist ein Wissen, das wir alle haben und der Schmerz, den wir fühlen, aber nicht fühlen wollen, kommt daher, dass wir uns immer wieder von der Verbundenheit trennen. Ansonsten könnten wir gar nicht andere Menschen verletzen, den Planeten ausbeuten, Tiere und Pflanzen schlecht behandeln.
Diese Trennung macht uns müde und hoffnungslos. Sie bringt Kriege und Armut, sie macht Lebensräume kaputt. In ganz kleinen privaten Kontexten und auf den großen Schaubühnen der Welt.
Jane Goodall und Joanna Macy haben diesen Schmerz ganz bestimmt auch gespürt, ganz bestimmt kannten auch sie das Gefühl von Trennung, sonst hätten sie nicht so viele Menschen mit ihren Worten und Taten erreichen und berühren können. Das ist meine Vermutung und vielleicht eine Unterstellung. Nur Menschen, die selbst durch tiefe Prozesse gegangen sind, können sich in andere Menschen hineinfühlen. Vorausgesetzt sie zerbrechen nicht am Schmerz.
Jane Goodall und Joanna Macy sind nicht zerbrochen, sie haben Wege gefunden in Verbindung zu bleiben, sie haben ihre Hoffnung nicht aufgegeben, sind nicht verhärtet und haben dadurch so viele Menschen erreichen können. Sie haben mit Menschen gesprochen, sind zu jenen Menschen gegangen, die im Schmerz zu versinken drohen, haben Mut gemacht und Möglichkeiten aufgezeigt. Sie haben den Menschen zugehört und an sie geglaubt.
Sie haben studiert und geforscht, sie haben entwickelt und entfaltet. Sie haben Brücken gebaut und die Schönheit in allem Lebendigen sichtbar gemacht. Ich gehe damit so sehr in Resonanz und wünschte ich hätte dieselbe Wirkkraft wie diese beiden Frauen.
Gestern waren wir als Lehrer*innenkollegium von der Schule, an der ich unterrichten darf, gesammelt bei unserem pädagogischen Tag. Wir waren eingeladen einen Tag in der „Basis“ in Schlanders zu sein, ein Ort, der schon Programm ist und sich auch der Lebendigkeit verschreibt. Das Thema, in das wir eintauchen durften, war „Navigation zu Lebensfreude und Gesundheit“ – mit Fokus auf den Lehrer*innenberuf.
Was auch hier schnell klar wurde, ist, dass wir den Beruf und unser Mensch-Sein nicht wirklich trennen können. Wieder etwas, das ich immer schon so gespürt habe – die Trennung macht für mich keinen Sinn. Natürlich nehmen wir in verschiedenen Kontexten verschiedene Rollen ein, trotzdem sind wir immer noch Menschen mit ihren Persönlichkeiten, Talenten und Potentialen. Überall geht es auch darum, wie wir in Beziehung miteinander sind. Daher waren die Impulse sowohl privat wie beruflich relevant.
Die Botschaft, die ich mir wieder einmal mitgenommen habe, ist die Einladung immer wieder nachzuspüren, ob wir dort, wo wir sind, wirken und arbeiten, auch wirklich Raum dafür haben in Verbindung mit unserem Warum zu sein. Warum will ich Lehrer*in sein, warum will ich mit den jungen Menschen und Kolleg*innen in der Schule arbeiten, was macht mich in meinem Kern dabei lebendig? Wer will ich in der Schule und im Leben sein?
Wir haben eine Übung in Kleingruppen gemacht, in der wir, das was wir als Kinder gerne gespielt haben verbunden haben, mit der Frage nach dem, was wir sein wollen und dem, was wir nicht (mehr) sein wollen und lassen möchten. Wir haben assoziativ mit Bildern gearbeitet und uns gegenseitig bezeugt und unterstützt beim Finden unserer Formulierungen.
Bei mir ist dabei so etwas entstanden wie: Ich möchte entdecken, erforschen, entwickeln und entfalten, dabei die volle Fülle sein (materiell und spirituell) und mich nicht (mehr) von vermeintlich verschlossenen und verbotenen Türen ausbremsen lassen.
Wenn ich mir die Frage stelle, ob ich in der Lebensphase, in der ich jetzt bin, an den Orten, wo ich wirke wirklich so leben und arbeiten kann, dann gibt es ein Ja mit Entfaltungspotential. Das ist für mich auch vollkommen ok, wenn wir schon voll entfaltet wären, bräuchten wir nicht mehr hier sein. Wir sind immer unterwegs und in Veränderung.
Ich glaube, das Leben hat mich bisher an die richtigen Orte geführt, immer wieder darf ich Möglichkeiten entdecken und erforschen, immer wieder darf ich mich entwickeln und entfalten. Immer wieder darf ich mich an die Fülle erinnern und anbinden, innerliches Eis schmelzen und dürres Land gießen und immer wieder stoße ich auch an die verschlossenen und verbotenen Türen.
Dort liegt für mich noch ein großes Potential. Es kribbelt in mir, wenn ich mir vorstelle, ich gehe einfach durch die Türen, die (vermeintlich) verschlossen und verboten sind. Da regt sich in mir mein Abenteuergeist.
Was braucht es, um zu erkennen, was uns wirklich den Weg verstellt? Bin ich es selbst mit meinen Glaubensätzen, mit meinem Verständnis von mir selbst, den anderen und dem Leben? Was bremst gefühlt immer wieder meine Gestaltungsfreiheit und raubt mir Kraft?
Und gilt das, was ich dabei an mir entdecke auch für andere Menschen? Was bremst uns als Menschheit aus, was verhindert immer wieder, dass wir als Menschen unsere Rolle als Hüter*innen der Lebendigkeit einnehmen und dabei in unserem vollen Potential und in der vielfältigen Einzigartigkeit leben dürfen?
Daran werde wohl ich weiterforschen, solange ich hier auf dieser Erde bin – ganz egal auf welche Spielplätze das Leben mich hinführt und wie weit die Wirkräume reichen. Ich wünsch mir, dass die jungen Menschen, mit denen ich in der Schule arbeite und all jene Menschen, die ich als Yogalehrerin, Shiatsupraktikerin und Seminarleiterin treffen darf und natürlich auch jene, denen ich ganz privat in meinem Leben begegne, immer wieder daran erinnert und ermutigt werden für sich zu entdecken und zu erforschen, was sie lebendig, verbunden und kraftvoll sein lässt.
Wenn ich dazu durch meinen eigenen Forscher*innen- und Abenteurer*innendrang auch nur einen kleinen Samen beitragen kann, ein bisschen inspirieren kann, dann werde auch ich am Ende mit dem Gefühl gehen dürfen, meine Aufgabe erfüllt zu haben. Inzwischen versuche ich zu vertrauen, dass alles seine Richtigkeit hat und wir alle genau dort sind, wo wir sein sollen.
Frohes Wochenende, mit allem was dich lebendig macht und dir Verbundenheit und Kraft schenkt.
Alles Liebe
Martina
PS:
Falls du mehr von Jane Goodall und Joanna Macy lesen möchtest – das sind zwei Bücher, die mich immer wieder begleiten, wenn mich die Hoffnungslosigkeit einholt:
Jane Goodall & Douglas Abrams „Das Buch der Hoffnung“
Joanna Macy & Molly Brown „Für das Leben! Ohne Warum“
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