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Auf Spurensuche nach dem Sinn

Oder: Der rote Faden, der sich durch die Liste der Frauennamen zieht




Heute berührt mich ein Thema, das nicht so ganz zu meinen üblichen Themen der Bestärkung und Freude passt. Ich sehe überall auf Facebook Solidaritätsposts und Ausdruck der Bestürzung über einen erneuten Frauenmord. Die chronologische Liste, mit all den Namen der Frauen, die dieses Jahr schon ihr Leben allein in Italien lassen mussten, ist lang und lässt mich erschauern. Ich kannte keine der Frauen und kann mir nur schwer vorstellen, wie es Angehörigen und Freund*innen gehen muss. Aber auch den Männern, die solche Taten vollbringen.


Was ist mit uns Menschen nur los? Was hat das für einen Sinn, was wir hier kollektiv auf der Bühne des Lebens gerade spielen?


Gestern habe ich einen wunderbaren Vormittag mit 12 Frauen verbringen dürfen. Wir haben uns mit dem roten Faden in unserem Leben beschäftigt. Was ist das, was die Lebensperlen wie ein roter Faden auffädelt, manchmal verborgen, manchmal klar sichtbar? Was sind die Werte und Qualitäten, die unser Leben durchziehen, die uns Antrieb und Sinn geben, die uns Freude und Lebendigkeit schenken? Wie können wir diese Qualitäten noch mehr in unser Leben bringen?


Es war wie eine Spurensuche, die uns ein Wegweiser sein kann, auf unserer Abenteuerreise durchs Leben. Wir haben uns die Frage gestellt, wie wir am Ende unseres Lebens in der Erinnerung der Menschen lebendig bleiben wollen. Was soll auf unserem Grabstein stehen über uns und unser Leben? Wir haben uns mit dieser Frage beschäftigt, in der Annahme, dass wir noch Gestaltungsmöglichkeiten haben.


Nun sitze ich hier und frage mich: Welcher rote Faden zieht sich durch das (zu kurze) Leben der Frauen, die auf der Facebook-Liste stehen? Von diesem Jahr und all den anderen Jahren. Sie haben nicht mehr die Möglichkeit sich diese Frage zu stellen und auch nicht die Frage, wie sie gerne in der Erinnerung der Menschen behalten werden wollen. Sie werden in die Geschichte eingehen als Namen und Daten auf einer Facebookliste, als Frauen, denen das Leben frühzeitig genommen wurde.


Ihre Lieben werden hoffentlich gute Erinnerungen behalten dürfen. Ich wünsche mir, dass jede dieser Frauen Spuren der Liebe und der Lebendigkeit hinterlässt und, dass gute Worte über sie in den Herzen der Menschen eingraviert sind. Dass sie jetzt nicht mehr da sind, können wir leider nicht ändern, wir können ihnen die Gestaltungsmöglichkeiten für ihr Leben nicht mehr zurückgeben.


Ich sehe Frauen (und Männer), die sich empören, die auf die Straße gehen, die laut werden, die fordern, dass sich was ändern muss, weil Gewalt keine Lösung sein kann. Das ist unendlich wertvoll und ich möchte mich bei allen, die sich so einsetzen, bedanken. Ich muss gestehen, das ist nicht, was ich gewöhnlich mache – das Protestieren, das Aufschreien, das Anklagen und Aufstampfen, meine ich. Bei mir setzen sich eher innere Prozesse in Gang. Ich versuche gerade hinzuspüren, was mein Beitrag sein kann und spüre ziemliche Ohnmacht und Traurigkeit und versuche sie durch diesen Text zum Ausdruck zu bringen.


Ich spüre aber auch eine Welle von Liebe für diese Frauen und stelle mir vor, dass wir Frauen und Männer, die wir das kostbare und so fragile Geschenk des Lebens noch in der Hand halten, es nicht vergeuden dürfen. Für die Frauen, die nicht mehr da sind, können wir in unsere volle Lebendigkeit gehen und die Hoffnung auf respektvolle, sichere und gesunde Beziehungen nicht aufgeben. Wir Frauen können gemeinsam mit den Männern, die dafür bereit sind, daran arbeiten, dass wir nicht in Angst leben müssen.


Ich glaube, jede von uns kann genau dort, wo sie ist, ihren Beitrag leisten, indem sie den Glauben an die Menschen und an eine liebevollere Gesellschaft nicht aufgibt. Vielleicht wird es in dieser Welt immer Mord und Totschlag geben, ich kann das nicht ausschließen, vielleicht liegt das in der Natur der Polaritäten, in der wir hier leben. Vielleicht gehört das zu einem höheren Lebensplan, den ich nicht kennen und verstehen kann.


Und doch gibt es da eine Seite in mir, die sagt, dass wir nicht aufhören dürfen an die Liebe und an den Frieden zu glauben. Sonst sind wir verloren. Und Liebe und Frieden beginnen immer in unserem Inneren. In dem wir Samen säen, auf Spurensuche gehen, an uns arbeiten, uns gegenseitig unterstützen und bestärken, uns in Liebe üben. Vielleicht kann das unser neuer kollektiver roter Faden werden.


In Erinnerung an die Frauen, die keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr haben.

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