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Die Wertschätzung für das, was ist

Oder: Die Neugierde auf das, was sein kann




Du, ich und alles andere, das lebt, kommt mit einem Paket an potentiellen Fähigkeiten und Talenten hier her in diese Welt. Die Idee ist, dass wir genau hier an diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt sind, um ein lebendiges Netz durch unsere Präsenz komplett und vielfältig zu machen. Dafür müssen wir gar nichts tun, wir müssen uns das nicht verdienen oder hart erarbeiten. Das ist einfach so, weil irgendeine Kraft uns hierhergebracht hat. Genau jetzt und genau so, wie wir sind.


Wie kommt es, dass wir dann immer wieder damit hadern und uns immer wieder so fühlen, als wären wir nicht zugehörig, als wären wir nicht gut genug, als müssten wir uns furchtbar anstrengend, um eine Daseinsberechtigung zu haben und schon erst recht um Anerkennung zu bekommen.


Warum reicht es uns meist nicht, neugierig darauf zu sein, was wir in unserem natürlichen Paket mitbekommen haben, uns darüber zu freuen und dem zu folgen, was wir da in uns Spannendes und Schönes entdecken können? Warum vergleichen wir uns immer wieder mit anderen und glauben, die anderen sind besser ausgestattet, besser aufgestellt und wertvoller mit ihrer Art zu leben, ihrem Weg, ihrer Entwicklung?


Ein Grund wird sein, dass wir als Babys abhängig von dem Wohlwollen und der Akzeptanz von anderen sind. Wir können nicht alleine überleben zu Beginn unseres Lebens. Wir kommen sozusagen unfertig auf die Welt und brauchen ein Umfeld, das uns zeigt, wie wir lebenswichtige Fähigkeiten lernen können. Wenn wir nun in einem Umfeld landen (und aus irgend einem Grund scheint das bei den meisten Menschen so zu sein), in dem uns von Anfang an signalisiert wird, dass das, was wir intuitiv in uns spüren, dass unsere Art die Welt zu entdecken und zu erleben, dass das, was uns Spaß und Freude macht, nicht das ist, auf das es ankommt, dass wir anders sein und handeln müssen, als es in uns stimmig wäre, dass wir zu schnell oder zu langsam, zu laut oder zu leise, zu schüchtern oder zu extrovertiert sind, zu sensibel oder zu forsch sind, zu dick oder zu dünn sind, dann werden wir zu Menschen, die ein Leben lang glauben, dass wir so wie wir sind, nicht richtig sind.


Wenn wir Glück haben, bringt das Leben Einladungen, die uns dazu bringen, diese gelernten Glaubenssätze zu hinterfragen, weil unsere inneren, vernachlässigten Stimmen lauter werden oder irgendetwas auf unserem Weg im Außen passiert, das uns dazu zwingt inne zu halten und hinzuschauen. Wenn wir Glück haben, haben wir dann Rahmenbedingungen, die uns zeigen, dass wir unsere Sichtweisen verändern können, dass wir lernen können, anders auf uns und die Welt zu schauen, dass wir da was zurechtrücken können und eine Wahl haben. Dass wir gestalten können.


Vielleicht dürfen wir erleben, dass das was und wer wir gerade jetzt sind, ok ist. Dass wir wertvoll sind – einfach nur, weil es uns gibt. Dass wir uns nicht so abmühen müssen, um Erwartungen zu erfüllen, die wir zu unseren gemacht haben, die aber nicht zu uns gehören. Dass wir dürfen, aber nicht müssen. Dass wir auch nicht alles rechtfertigen müssen, was wir sein und tun möchten. Wenn wir unserem inneren Navi folgen, uns treu sind, uns zugestehen auch mal was „falsch“ zu machen und auf die Nase zu fallen, wenn wir unserer Lebendigkeit folgen, auch, wenn vielleicht die Vernunft was anderes suggeriert. Was wäre dann?


Vielleicht wären wir entspannter – uns selbst, aber auch anderen Menschen gegenüber. Vielleicht würden wir auch anderen zugestehen, das zu tun und zu sein, was ihnen entspricht – auf ihre Weise, in ihrem Rhythmus, ohne zu glauben, dass wir das richtige Rezept für alle und alles besitzen und ohne zu glauben, dass das, was für mich richtig ist, für die ganze Welt richtig sein muss. Vielleicht würden wir zurückfinden zu einer Liebe zur Vielfalt – in uns, in der Natur, in der Art und Weise, wie wir uns gegenseitig begegnen.


Jetzt denkst du dir vielleicht – träum weiter - so ist das Leben nun mal nicht. Na ja, kann sein. Aber je mehr ich mich mit der Möglichkeit beschäftige, dass es so sein könnte, je mehr ich mir kleine Spielräume schaffe zum Ausprobieren, was passiert, wenn ich mich getraue, kleine Schritte in die Richtung zu machen, die ich mir wünsche, je öfter es passiert, dass auch mal etwas gelingt, desto mehr Vertrauen kann ich fassen. Je mehr Vertrauen ich fassen kann, desto weniger lasse ich mich aus dem Gleichgewicht bringen, desto gelassener kann ich sein. Je gelassener ich bin, desto mehr Möglichkeiten kann ich sehen, desto mehr kann ich wählen, desto mehr kann ich staunen. Und ja, desto mehr kann ich auch scheitern, ohne, dass mich das kaputt machen muss. Desto mehr kann ich auch sehen und aushalten, dass es auch schwierige Momente gibt und braucht, dass ich manchmal in einem Loch hänge und gefühlt stecken bleibe, desto mehr kann ich integrieren von dem, was noch nicht so ist, wie ich es mir vielleicht ausmale.


Je mehr ich in dieser Haltung bin, desto weniger habe ich das Gefühl mich dauernd erklären zu müssen. Ich kann mit einer offenen, neugierigen Haltung auch hören, was andere Menschen sagen und denken, ohne, dass ich alles auf mich und mein „richtig sein“ beziehen muss. Ich kann Impulse aufnehmen und für mich prüfen, ob ich damit etwas machen möchte oder auch nicht. Ich kann Impulse in den Raum legen und vertrauen, dass der Impuls dort, wo er was bewegen kann, auf fruchtbaren Boden fällt und ich kann es auch aushalten, wenn das nicht passiert, ohne mich selbst dafür falsch zu fühlen.


Während ich diese Worte schreibe, weitet sich alles in mir. Es fühlt sich fein an, sich zu verbinden mit der Vorstellung, dass alles seinen Platz hat, dass alles ok ist, wie es ist – und ich eben auch.  Es fühlt sich frei an, neugierig zu sein und Schritte ausprobieren zu dürfen, ohne genau zu wissen wohin sie gerade führen, außer dem Gefühl, dass ich etwas Lebendigem auf der Spur bin. Auch wenn andere gerade ganz was anderes für besser und richtig halten und für sich etwas anderes wählen. Es fühlt sich gut an spielerisch mit mir selbst und mit meinem Lebensumfeld umzugehen und doch wach zu bleiben und die Tiefe und Bedeutsamkeit von jedem Schritt, von jeder Entscheidung, von jeder Geste zu spüren und zu sehen.


Wir leben in einer Zeit und einer Welt, in der wir ganz viel mit „Nicht-Wissen“ umgehen müssen. Gefühlt ist unsere Zeit voller Krisen, voller Gewalt, voller Schmerz. Aber eben auch voller Möglichkeiten, voller Chancen, voller Spielräume. Wenn ich es schaffe, die Lebendigkeit, die zyklische Logik im Wachsen und im Zerfallen zu sehen, dann kann ich ganz egal, wo im Zyklus ich gerade bin das Wunder sehen. Und auch ein Zyklus ist nicht linear – in jedem Wachstum steckt schon das Potential des Zerfalls und in jedem Zerfall steckt schon der Humus für einen neuen Wachstumsschub. Alles passiert zu gleich.


Jeder Moment ist neu und könnte uns überraschen. Mehr Lebendigkeit als diese, bekommen wir nicht. Nicht immer gelingt es in dieser Präsenz und im Vertrauen zu bleiben, aber wir können immer wieder versuchen, uns daran zu erinnern.


Habe einen wunderbaren Sonntag – heute ist Vollmond und ein natürlicher Zyklus ist wieder vollbracht. Der Mond wird wieder abklingen und doch lässt uns das nicht verzweifeln, weil wir schon die Erfahrung haben, dass dann wieder ein Neumond kommt, der wieder wächst.

Es ist gerade Frühlingsanfang und die helleren Tage dominieren wieder über die dunkleren Nächte. Und auch hier wissen wir aus Erfahrung, dass der Moment des längsten Tages kommen wird, wir uns mit jedem Sonnenstrahl freuen können, um dann wieder damit zu leben, dass die Tage auch wieder kürzer werden und wir auch das Geschenk der kühleren, dunkleren Abende schätzen können im Wissen, dass der Zyklus nicht aufhören und sich immer wieder erneuern wird.


So sind wir eingebunden in die Zyklen des Lebendigen. Was für ein Glück.


Alles Liebe

Martina


PS: Heute hat mich Swami Nitya daran erinnert wie wichtig und heilsam es ist, unsere Füße (und nicht nur die Füße) in Verbindung mit der Erde zu bringen. Daher das Titelfoto - raus in die Wiese und die Füße lüften . von oben die Sonne, von unten die Erde. Danke, Swamiji.

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