Oder Welche Qualitäten brauchen wir jetzt?
Es ist eine paradoxe Zeit, in der wir leben. Es erreichen uns so viele gegensätzliche Meldungen, dass es schwierig ist eine kohärente Haltung zu entwickeln.
Auf der einen Seite hören wir, dass es statistisch gesehen noch nie so viel Wohlstand und Frieden auf der Welt gegeben hat wie heute. Auf der anderen Seite sehen wir nur Nachrichten von Konflikten, Krieg und Gewalt, wenn wir Zeitungen lesen, Radio hören oder den Fernseher anmachen.
Auf der einen Seite wird uns suggeriert wir sind die Schöpfer*innen unseres Lebens und unseres Glücks, auf der anderen Seite haben wir uns noch nie so machtlos gefühlt, wie in diesen Tagen. Auf der einen Seite werden wir dringend aufgefordert, dass es Zeit ist zu handeln, wenn wir unseren Planeten und die Menschheit retten wollen, auf der anderen Seite ist es unbedingt notwendig inne zu halten, weniger zu tun, weniger zu wollen, weniger zu haben und mehr zu Sein.
Auf der einen Seite leben wir in unserer Kultur mit einem mechanistischen, linearen Welt- und Wirtschaftsbild, das uns glauben lässt, wenn wir nur hart genug arbeiten, ist immer mehr, immer höher, immer weiter und immer schneller möglich – auf der anderen Seite ist es klar, dass wir als natürliche Wesen auf einem natürlichen Planeten zyklischen Gesetzen unterworfen sind, die nicht vereinbar sind mit unendlichem Wachstum und kontinuierlicher Leistungssteigerung.
In der Yogaphilosophie hören wir von drei Kräften, die zyklisch wirksam sind: die kreative Schöpferkraft, die Neues entstehen lässt, die Kraft, die erhaltend wirkt und die Kraft die auflösend und zerstörend wirkt. Diese drei Kräfte bedingen einander. Ohne Auflösung, keine Schöpferkraft, ohne Auf- und Abbau kein Erhalt. In vielen indigenen Kulturen ist das Bewusstsein für diese Zyklen tief in den Menschen verankert und sie leben in dem Bewusstsein, dass Beginn und Ende, Leben und Tod zusammengehören – so wie alles in der Natur entsteht und wieder vergeht – in seiner manifesten Form.
In unserer Gesellschaft würden wir gerne verneinen, dass wir nicht nur wachsen können, sondern auch wieder zerfallen müssen. Der Tod als Transformationsprozess, der notwendig ist, damit wieder was Neues entstehen kann, ist nicht in unserem Weltbild verankert. Die Angst vor dem Ende unseres Lebens, der Menschheit, des Planeten hält uns so in Schach, dass wir oft gar nicht auskosten können, dass wir jetzt gerade aber hier sind und das, was wir hier jeden Tag erfahren, erforschen und erleben dürfen, feiern können. Weil es ein Geschenk ist, weil unser Körper eine Leihgabe ist und eben nicht ewig dauert.
Solange wir diese natürlichen Polaritäten des Lebenszyklus ausblenden wollen, werden wir nie richtig lebendig sein. Um jeden Preis das (menschliche) Leben erhalten, um jeden Preis das Leben hier in dieser Form verlängern zu wollen, nimmt uns einen wichtigen Teil unserer Erfahrung als lebendige, organische Wesen. Dieses Festhalten kommt vielleicht daher, dass wir glauben, wenn unser manifestes Leben in der Form, wie wir es hier kennen, zu Ende ist, dann ist es aus. So denken aber keine indigenen Völker, so denkt die Yogaphilosophie nicht und alle anderen spirituellen Weisheitslehren auch nicht.
In den alten Lehren gibt es immer eine Vorstellung von Transformation, von einer Veränderung unserer Form, aber nicht von der Essenz, von der Lebenskraft, die wir sind. Natürlich sind auch diese Vorstellungen oder Berichte alle geprägt von menschlicher Vorstellungskraft, oft gefärbt von der Zeit und der Kultur, in der sie festgehalten wurden – wir können uns mit unserem Geist keine Unendlichkeit vorstellen, wir können die Größe der Schöpfung nicht erfassen und mit Worten ausdrücken. Wir können allenfalls ahnen, eine innere Wahrheit empfangen, vertrauen und uns hingeben.
Mir schenkt die Vorstellung, dass es eine Essenz gibt, die das Lebendige in all seinen Formen verbindet, auch wenn wir das gerade nicht begreifen können, eine innere Ruhe und Entspannung. Ich kanns nicht begreifen und muss es auch nicht. Ich kann nur immer wieder beobachten, was die Natur macht, ich kann mich weit machen als Resonanzgefäß und mich leiten lassen. Ich kann nur in jedem Moment neu schauen, was ist gerade lebendig, was entsteht gerade, was braucht eine erhaltende Kraft und was will gehen und sich auflösen. Ich kann mich einschwingen und versuchen zu verstehen, welche Qualitäten es in den einzelnen Phasen braucht. Was unterstützt etwas, das sich gerade neu entfaltet? Was unterstützt etwas durch die Blüte des Lebens? Was unterstützt das Lebendige in seiner Auflösung?
Ich habe so das Gefühl, dass wir kollektiv als Menschheit oder als Gesellschaft in unserem Kulturkreis zumindest, gerade durch einen großen Auflösungsprozess gehen, der notwendig ist, damit wieder was Neues, Lebendiges entstehen kann. So viel hat ausgedient und wir halten so daran fest, weil wir nicht gelernt haben, wie wir loslassen, wie wir auflösen, wie wir dem Zyklus des Lebens vertrauen können. So viel Angst steckt in uns. Und so kämpfen wir gegen Alles und Alle, auch gegen uns selbst und vor allem gegen das Leben.
Ich glaube, was es jetzt braucht, ist zusätzlich zum Vertrauen eine große Portion Wohlwollen, Mitgefühl, Freundlichkeit, Gelassenheit – es braucht die Fähigkeit auszuhalten, dass sich so Vieles paradox anfühlt, nicht begreifbar ist, schmerzhaft ist. Und wir brauchen einander. Alleine können wir diese Wucht des Lebens nicht halten. Wir brauchen Gemeinschaften, in denen wir uns mit unserer Angst zeigen dürfen, aussprechen dürfen, was uns bewegt. Räume, in denen wir nicht dafür bewertet oder verurteilt werden, wenn wir gerade total überfordert sind. Und wir brauchen Räume, in denen wir auch unsere Momente des Glücks und der Freude teilen dürfen, in denen wir feiern dürfen, auch wenn es gefühlt gerade viele Menschen auf der Welt gibt, denen keine Freude vergönnt ist. Es hilft niemandem, wenn wir in kollektive Depressionen verfallen und im Sumpf der Ausweglosigkeit versinken.
Liebe Menschen, seid milde mit euch selbst und mit der Welt. Spürt die Kraft der Sonne, wenn sie euch in diesen warmen Apriltagen küsst, spürt die Erdkraft, wenn ihr die ersten Male wieder barfuß in einer Wiese das Gras unter den Füßen spürt, lasst euch füllen von den Düften und Farben der Frühlingsblüten und der spießenden Blätter. Genießt den Regen und den Wind auf eurer Haut. Seid freundlich und gelassen, wenn ihr bemerkt, dass ihr nicht alles so hinbekommt wie ihr glaubt, dass es richtig wäre und seid genauso freundlich und gelassen, wenn ihr die Kämpfe der anderen Menschen bezeugt.
Es ist nicht einfach Mensch zu sein. In diesen Zeiten nicht und vielleicht in keiner Zeit. Leben ist intensiv, es ist nicht linear, es geht in Wellen, in Spiralen, in Kreisen. Nutzt diese merkwürdige Menschenreise und kultiviert die Schönheit. Seid gütig, urteilt nicht, macht euch weit. Wir wissen soviel nicht und quälen uns tagtäglich damit verstehen zu wollen, recht zu haben, alles richtig zu machen, das Leben zu zähmen und es willig zu machen, so wie wir es uns vorstellen. Dadurch verpassen wir die so wertvollen Momente der echten, innigen Verbindung, des Staunens und des Lernens. Und vielleicht auch das eine oder andere Wunder.
Alles Liebe
Martina
PS: ich möchte daran erinnern, dass ich diese Texte immer aus meinem momentanen, subjektiven Verständnis des Lebens und der Welt schreibe. Meine Ansichten sind keine objektiven Wahrheiten, können sie gar nicht sein. Meine Sicherheiten zerbröseln immer wieder von Neuem und gerade bin ich in einer Phase des großen Nicht-Wissens – und ja, vielleicht auch in einer Form von Auflösung. Ich werde gerade immer wieder eingeladen meine Rollen und Aufgaben zu hinterfragen und meine Vorstellungen davon, wer ich bin und was ich kann, was ich soll und was ich darf oder nicht darf loszulassen. Was mir hilft ist ein immer größer werdendes Vertrauen, dass das Leben mich und alles und alle führt und ich niemals alleine bin.
Hier finde ich Gemeinschaftsräume, die mich immer wieder in meinen Prozessen bezeugen, stärken und unterstützen:
Am 20.04. gibt es einen Tag für Entdecker*innen, an dem du ein Gespür dafür bekommen kannst, wie unser Kraftplatz mitten in Meran wirkt und was du für dich mitnehmen kannst. Komm so gerne vorbei!
Hier starten gerade neue Runden von Kursen: Be.Come – Vom Grübeln ins Handeln und Hosting für Kulturwandel. Beide Kurse haben mich nachhaltig geprägt, mir Instrumente für den Alltag geschenkt, mein Wirken vertieft und mich bestärkt auf vielfältigste Art und Weise. Schau so gerne rein, vielleicht ist jetzt gerade der Moment für neue Inspiration.
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